Maik Schlüter schrieb den folgenden Text für den Katalog 2003-2005:
„So wie es hilft, sich zu kratzen, wenn es juckt, schwächt die liberale Dokumentation eventuelle Gewissensbisse auf Seiten ihrer Betrachter ab; gleichzeitig versichert sie diese ihres relativen Wohlstands und ihrer gesellschaftlichen Stellung.“Alltag und Gewalt
Gewalt ist eine Grundbedingung des gesellschaftlichen Lebens, ein alltägliches Faktum der menschlichen Existenz, das kanalisiert und organisiert, diszipliniert, reglementiert und notfalls bestraft werden muss. Niemand ist frei von Trieben, von Gewaltphantasien, von Xenophobien und Vorurteilen. Es gibt kaum jemanden, der nicht selbst schon Gewalt angewendet oder zu spüren bekommen hat oder der sich nicht insgeheim die Macht und die Mittel zur Gewaltanwendung gewünscht hat, um aufzuräumen, Ordnung zu schaffen, Rache zu nehmen oder der Gerechtigkeit genüge zu tun. Weil alle ständig in Gefahr sind, drangsaliert zu werden oder das Gegenüber zu attackieren, haben wir innerhalb der Gesellschaft die Gewalthoheit auf gewählte Repräsentanten und deren geschulte Exekutoren übertragen und ein ausgeklügeltes System der Überwachung, der Strafe und Selbstdisziplin entworfen. Diejenigen, die diese Absprache akzeptieren und versuchen, sie ernsthaft umzusetzen, muss der Ausbruch jeglicher Form von offener und unkontrollierter Gewalt erschrecken und zutiefst verunsichern. Das Erschreckende kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass jede Form der Gewalt immer das Ergebnis einer Gesellschaft, ihrer Werte, Normen und Kommunikation ist. Deshalb kann niemand leichterhand Gewalt als etwas Fremdes abtun, sondern wird einsehen müssen, dass die Ursachen, so unangenehm und belastend sie auch sind, im eigenen Herzen und Verhalten einen Platz finden können.
Wenn man über rechtsradikale, rassistische, antisemitische Gewalt spricht und sich über deren soziale und physische Exzesse entrüstet, zieht man eine klare Grenze zwischen Gut und Böse. Die Frontlinie ist dann klar definiert: auf der einen Seiten der marodierende und entfesselte Mob, der mörderischen Ideologien und Infiltrationen unterliegt, und auf der anderen Seite der aufgeklärte, demokratische Staatsbürger, der rohe Gewalt, blutige Ausschreitungen und andere Ausfälle der ideologisierten Fremdenfeindlichkeit verabscheut und verurteilt. So sehr die moralische Empörung gerechtfertigt ist, so wenig findet sie leider einen tatsächlichen Widerhall in der gegenwärtigen Gesellschaft, ihrer Kultur und Organisation. Denn rechte Gewalt ist keine Perversion der sozialen Ordnung. Sie findet alltäglich statt, und zwar inmitten einer demokratischen, offenen Gesellschaft.
Es macht deshalb wenig Sinn zu behaupten, dass entgleiste Einzeltäter
ihren zerstörerischen Zwängen folgen und ansonsten alles in
Ordnung sei.
Wir müssen uns fragen, wie wir grundsätzlich zur Gewaltfrage
stehen und wie wir ihre spezifische Ausformung als Nazitum begründen
und bekämpfen wollen. Warum gerade hier und heute diese Gewalt
eine Präsenz entwickeln kann. Die Verbindung von Rechtsradikalismus
und physischen Übergriffen ist komplex und einfach zugleich: Hass
und Angst, Qual und Terror, Vernichtungswille und Selbstjustiz sind
nur einige wenige Schlagworte, die rechte Gewalt flankieren. Die Ablehnung
des Fremden, ja allein die Definition dessen, was fremd ist oder sein
soll, wird von Nazibanden unmittelbar in Gewalt übersetzt. Ihre
Gründe sind genauso dumm wie archaisch, genauso so roh wie entfremdet.
Gewalt bleibt Gewalt, egal, in wessen Namen sie geschieht. Die quantitative Steigerung der Tortur, des Überfalls oder des Angriffs kennt außer dem Tod keine Grenze. Ideologisierte, rassistische oder antisemitische Gewalt bedeutet Organisation und ideelle Rechtfertigung des Grauens und letztlich auch die Perfektionierung und Etablierung von Gewalt in allen gesellschaftlichen Bereichen. Und was diese generalstabsmäßige Umsetzung bedeutet, haben die Deutschen in erschreckender Weise in Nazideutschland vorgeführt. Nicht zuletzt deshalb bleibt es unerlässlich, über die Motive der Täter aus der rechten Szene offen zu sprechen, keine sozialen Erklärungsmodelle vor deren Abgründigkeit zu stellen und deren Handlungen öffentlich zu machen und anzuklagen.
Die Arbeit von Jörg Möller, der eine Chronik rechtsradikaler Gewalt in Berlin in den Jahren 2000–2005 von der Initiative Reachout zu Grunde liegt, zeigt in einer umfassenden Serie Orte alltäglicher Gewalt. Jörg Möller fotografierte Tatorte. Orte, an denen Menschen anderen Menschen Gewalt antaten. Bezogen auf die Fotografie und ihren Kontext drängen sich für die vorliegende Chronik zwei Referenzen auf: zum einen die berühmte Metapher von Walter Benjamin, der schreibt, dass „man nicht umsonst die Aufnahmen von Atget mit denen eines Tatortes verglichen“ hat, und der anschließend fragt: “Aber ist nicht jeder Fleck unserer Städte ein Tatort? nicht jeder ihrer Passanten ein Täter?“ (zitiert nach: Walter Benjamin, „Eine kleine Geschichte der Photographie“ in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, Seite 64, Suhrkamp Verlag, 1966, Frankfurt/M.) Zum anderen die fotografische Arbeit „Tatorte – Bilder gegen das Vergessen“ des amerikanischen Fotografen Joel Sternfeld aus dem Jahre 1996.
Walter Benjamins Aussage über das Wesen und die Wirkung der Fotografie
ist eine präzise und kenntnisreiche Metapher, die sich mit den
soziologischen und psychologischen Wandlungen des damals noch jungen
Mediums beschäftigt. Aber gerade als Metapher ist sie weder auf
die Arbeit von Joel Sternfeld noch auf die von Jörg Möller
zu beziehen. Denn beide haben wirkliche Tatorte fotografiert und dokumentieren
damit einen Teil der realen Verbrechensgeschichte unserer Gesellschaft.
Joel Sternfeld verbleibt mit seiner Dokumentation in Amerika und entwirft
ein breites Kaleidoskop der Gewalt, die zugleich die jüngere amerikanische
Geschichte widerspiegelt. Von der Erschießung Martin Luther King,
Jr., 1968, den ungeklärten Todesumständen der Laborantin Karen
Silkwood, 1974 bis zu den Opfern jedweder krimineller oder technischer
Gewalt, die kaum oder gar nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert
sind, bildet Joel Sternfeld die Orte des Geschehens ab .
Jörg Möllers Arbeit spezifiziert die Gewaltfrage auf der Grundlage
der Chronik rechtsradikaler Gewalt in Berlin, und er fotografierte ausschließlich
Orte, an den physische Gewalt gegen andere Personen im Zeichen einer
rassistischen, antisemitischen oder anders deklarierten Fremdfeindlichkeit
stattfanden. Hier treffen sich die Referenzen wieder: denn Walter Benjamins
pessimistische Frage, ob denn nicht jeder Fleck der Stadt ein Tatort
sei und die Passanten Täter, bringt zum Ausdruck, dass Gewalt allgegenwärtig
ist und dass jede und jeder zu jeder Zeit ein Täter und ein Opfer
sein kann. Joel Sternfeld und Jörg Möller zeigen eine Topografie
der Gewalt an völlig banalen Orten. Alltäglichkeit und Normalität
der Gewalt sind die Stichpunkte, die uns auf uns selbst, die gesellschaftliche
Ordnung, unsere Kultur und Courage und die Frage, warum in einer vermeintlich
weltoffenen Stadt wie Berlin rechte Gewalt eine derartige Präsenz
hat, zurückwerfen. Gewalt ist eine anthropologische Konstante,
ein Wesenszug des Menschen, der – zivilisatorisch oder kulturell
– die Grundbedingung unserer Existenz markiert. Der Gewalt kann
nur mit einem komplexen Gefüge aus moralischen und ethischen Grenzen,
Gewissen und Gefühl, gesellschaftlichen Restriktionen wie Strafe
und Überwachung oder der Erziehung zu psychischer und emotionaler
Reife begegnet werden. Und selbst dann bleibt die Gefahr auftretender
Gewalt bestehen. Denn nicht nur Affekte schaffen ein Klima der Gewalt,
sondern auch Ideologien und ihre Leitbilder und Vorstellungswelten begründen
die Ausformung und Anwendung gewalttätiger Exzesse und menschenfeindlicher
Anschauungen. Rechte Gewalt fußt auf dieser unheilvollen Verquickung
von archaischer Gewaltbereitschaft und ideologischer Verbrämung,
von Hass und Angst und einer ungezügelten Lust auf Schikane, Totschlag,
Folter oder Mord. Dabei ist die evolutionäre oder anthropologische
Perspektive nur im akademischen Kontext der Soziologie oder Psychologie
interessant. Im Alltagsleben müssen andere Muster der Abwehr und
Anklage zur Geltung gebracht werden.
Aber davon sprechen die Fotografien von Jörg Möller nicht und können sie auch nicht sprechen. Die Arbeit kann uns nur einen formalen Rahmen bieten, eine organisierte Fläche für spezifische Projektionen sein und ein dokumentarisches Szenario entwerfen, das nur mittelbar über die Gewalt und ihre tatsächlichen Abgründe spricht. Das Verfahren einer dokumentarischen Distanz erscheint in diesem Zusammenhang angemessen und plausibel. Zum einen schützt eine gewisse Nüchternheit vor übereilten und möglicherweise oberflächlichen Gefühlen der Anteilnahme und lenkt den Blick auf beständigere und objektivierbare Fakten und Gedanken. Erst so öffnet sich neben den affektbeladenen Bildern von blutverschmierten Gesichtern oder geschundenen Leibern der Kontext einer gesellschaftlichen Wahrheit. Die lautet in diesem besonderen Fall: ganz Berlin, jeder Ort der Stadt und jeder von uns kann zum Opfer rechtsradikaler Gewalt werden. Und die Ursachen für diese schrecklichen Umstände sind weder sozialtherapeutisch noch historisch abstrakt, sondern Teil unserer Lebenswirklichkeit und damit Aufgabe unseres täglichen Lebens.
Die Form der „konzeptuellen“ oder diskursiven Distanz hat innerhalb der gesellschaftskritischen Fotografie Tradition. Eine der wichtigsten Künstlerinnen, die seit den späten sechziger Jahren mit klugen politischen und gesellschaftlichen Analysen die Möglichkeiten einer engagierten Kunst auslotet, ist Martha Rosler. In einem umfassenden Essay über die Dokumentarfotografie bezeichnet sie den sozial engagierten Fotojournalismus als „liberale Dokumentation“. Deren wesentliches Merkmal sei es, Elend und Armut zwar zu benennen, allerdings unter Aussparung der dafür verantwortlichen Ursachen. Die in Magazinen veröffentlichten Reportagen lassen die sozialen Probleme eher wie unabänderliche Naturkatastrophen erscheinen, deren Schicksalhaftigkeit nicht zu begegnen ist. Dadurch wird eine ganz bestimmte Art der Reaktion forciert: nicht die Grundlagen eines gesellschaftlichen Konflikts zu begreifen und zu kritisieren, sondern durch partielle Anteilnahme dessen Effekte auf den eigenen emotionalen Haushalt abzuschwächen. „So wie es hilft, sich zu kratzen, wenn es juckt, schwächt die liberale Dokumentation eventuelle Gewissensbisse auf Seiten ihrer Betrachter ab; gleichzeitig versichert sie diese ihres relativen Wohlstands und ihrer gesellschaftlichen Stellung.“(Martha Rosler, Positionen in der Lebenswelt. Hrsg. von der Generali Foundation Wien. Köln 1999., S.109) Für Martha Rosler manifestiert diese Art der Dokumentation lediglich die jeweiligen sozialen Stellungen. Indem sie die Armen als arm, die Ausgegrenzten als ausgegrenzt oder die Opfer von Gewalt als Opfer zeigt, bestätigt sich letztlich nur das Bild, das die Betrachtenden ohnehin schon hatten und das ihrer gesellschaftlichen und ideologischen Sicht entspricht. Eine veränderte Sicht der gesellschaftlichen Zusammenhänge ist damit kaum zu erreichen.
Dennoch besteht die Gefahr, innerhalb einer fotografischen Konzeption wie dieser möglicherweise zu kalt und rational zu reagieren und den Schmerzen und Verlusten der Opfer mit Fragen des künstlerischen Verfahrens unangemessen zu begegnen. Schnell gerät man in die Situation, einen bloßen Rechenschaftsbericht abzulegen, ohne dabei wirklich Stellung zu beziehen oder Emotionen zu wecken. Diese Gefahr besteht aber immer, wenn vermeintlich objektivierbare Verfahren wie Diagnose, Verhör, Analyse, Obduktion, Recherche oder Dokumentation bei der Lösung von menschlichen Problemen greifen sollen. Die Polizeifotografie z. B. dokumentiert schlicht und präzise die Verheerungen menschlicher Gewalt. Selbstverständlich wird auch durch so genannte objektive Vorgehen interpretiert. Unter den formalen Maßgaben eines Archivs wird ausgewählt und bewertet. Ein solches Archiv sehen wir auch in den Bildern von Jörg Möller visualisiert. Was auf den ersten Blick wie eine Schwarz-Weiß-Serie der Stadt Berlin aussieht, gewinnt durch die Bildunterschriften eine schockierende Komponente. Die Distanz ist nur vordergründig, da die Möglichkeit, „dass jeder Fleck ein Tatort und jeder ein Täter sein kann“, größer ist, als wir denken. Täter schaffen Opfer, nicht umgekehrt. Die Trennlinie zwischen den aktiven Tätern und jenen, die wegschauen, ignorieren oder stillschweigend akzeptieren, ist weniger deutlich gezogen. Zivilcourage, gesellschaftliches Engagement und offener Widerspruch lassen die Trennung jedoch deutlicher hervortreten.
© Maik Schlüter, 2005